Vieles spricht gegenwärtig dafür, dass die Krim den ukrainischen Staat innerhalb der nächsten Wochen verlassen wird. - Offensichtlich hat der Westen im gegenwärtigen Konflikt mit Russland schlechte Karten. Und man hat zu hoch gepokert.
Von Bernd Murawski
Vieles spricht gegenwärtig dafür, dass die Krim den ukrainischen Staat innerhalb der nächsten Wochen verlassen wird. Eine Aufnahme in den russischen Staatsverband wird vermutlich nicht sofort erfolgen, aber Verteidungszusagen erfüllen ja den gleichen Zweck. Die Krim wird einen Status erlangen, der Nordzypern vergleichbar ist, aber dies wird weder Russland noch die Bevölkerung auf der Krim besonders stören.
Allmählich offenbart sich westeuropäischen Politikern, dass sie nichts anderes tun können als ohnmächtig zuzuschauen.
Dabei war die Situation vor einem Monat noch eine ganz andere. Russland und der von ihm unterstützte Janukowitsch waren in der Defensive. Es gelang, der russischen Seite grössere Zugeständnisse abzuringen. Der Kompromiss zwischen der Opposition und Janukowitsch, der unter Vermittlung Deutschlands, Frankreichs und Polens ausgehandelt und von diesen garantiert wurde, hätte in seinem Ergebnis zu einer Annäherung der Ukraine an die EU geführt. Russland wurde also gezwungen zu akzeptieren, dass der Versuch einer Integration in die von Russland angestrebte Zollunion misslungen ist.
Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Die auf dem Maidan versammelten Oppositionellen waren nicht bereit, ihre Waffen abzugeben. Das Innenministerium zog die Polizeikräfte von Janukowitschs Residenz ab, der Präsident floh. Ein Teil seiner Partei lief zur Opposition über, der Rest verschwand. Eine Übergangsregierung wurde gebildet, in der nationalistische Extremisten, aber keine Vertreter der russischsprachen Regionen vertreten waren.
Und wie reagierte der Westen? Man schaute nicht nur zu, sondern äusserte offen Sympathie für die „Revolution“. Die neue Regierung wurde sofort anerkannt und ihr wurde jegliche Unterstützung zugesagt. Dadurch hat man Russland nicht nur brüskiert, sondern auch aufgeschreckt. Dort kennt man die Pläne US-amerikanischer Think tanks sehr genau, die auf eine Einkreisung und Instabilisierung Russlands abzielen.
Man brauchte sich eigentlich nicht darüber zu wundern, dass das unter Putin wiedererstarkte Russland sich wehrte. Und Russland konnte moralisch auftrumpfen: Dem Westen warf man vor, er akzeptiere den von den Vertretern der Übergangsregierung praktizierten Vertragsbruch, er verurteile nicht die Beteiligung von rechten Extremisten an der Regierung und er schweige zu den Aktivitäten militanter nationalistischer Gruppen in der West-Ukraine. Aber das störte unsere Volksvertreter kaum: Russische Einwände wurden einfach ignoriert.
Dagegen wurde der russischen Seite hinsichtlich der Lage der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine unzulässige Einmischung vorgeworfen. Moskaus Drohungen, so hiess es, muss man entschlossen entgegentreten. Gemässigte Politiker vor allem aus Deutschland verlangten von Russland, im Interesse einer Deeskalation mit Vertretern der Ukraine zu sprechen - wohl wissend dass damit die Übergangsregierung aufgewertet würde. Dabei ist die russischer Sicht, deren Rechtmässigkeit in Frage zu stellen, verständlich.
Bei einer Abspaltung der Krim durch militärisches Engagement handelt es sich zweifellos um einen Bruch internationalen Rechts durch Russland. Als Hauptmotiv lässt sich die Sorge um die Zukunft des Marinestützpunkts in Sewastopol benennen, aber es sollte auch nicht der Druck zum Handeln vernachlässigt werden, der nicht nur von russischsprachigen Ukrainern, sondern auch von der eigenen Bevölkerung ausgeht.
Faktisch bietet der Westen der russischen Regierung eine willkommene Gelegenheit, die Krim der Ukraine zu entreissen, zumal da er in der Vergangenheit ähnlich agierte. Erinnert sei an die Aufspaltung Jugoslawiens, die ebenso ohne UN-Mandat erfolgte wie die militärischen Aktionen im Irak, in Afghanistan und in Libyen. Dort konnte man sich nicht einmal auf den erklärten Willen der Bevölkerungsmehrheit berufen.
Der Glaube, Putin in die Knie zwingen zu können, führte offenbar zu einer masslosen Überschätzung der eigenen Position. Wie kann der Westen denn reagieren, wenn die Krim die Ukraine verlässt? Ein Einmarsch der Nato ist ausgeschlossen, ebenso militärische Aktionen seitens der Ukraine, da dann Moskau zu Hilfe eilen würde.
Wirtschaftssanktionen? Hier droht eher ein Riss quer durch die EU als ein realer Schaden für die russische Wirtschaft. Das Einbrechen europäischer Aktienkurse bei gleichzeitig neuen Rekordhöhen US-amerikanischer Indizes signalisiert unmissverständlich, wer wirtschaftlichen Schaden erleiden und wer profitieren würde. So ist auch ein Zwist mit den Amerikanern vorprogrammiert, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, dass dort die Manipulation der öffentlichen Meinung jener in Russland kaum nachsteht und Obama infolgedessen massiv unter Druck ist.
Natürlich würden Sanktionen auch Russland wirtschaftlich treffen. Allerdings ist die russische Bevölkerung schon auf eine Bereitschaft zu Opfern eingeschworen worden, und es gibt ja noch asiatische Partner, die gerne in die Bresche springen. Auf eine politische Eiszeit mit Boykottmassnahmen würde unweigerlich eine erhebliche Beeinträchtigung wirtschaftlicher Kooperation folgen, da diese ein hohes Mass an gegenseitigem Vertrauen voraussetzt.
Die wirtschaftlichen Rückschläge in einigen westeuropäischen Staaten wären zweifellos gravierender als jene in Russland.
Ausserdem sollte nicht die Rechnung vergessen werden, die die Ukraine dem Westen präsentiert. Hierbei geht es nicht nur um den momentanen Schuldenberg. Beträchtliche Teile der ukrainischen Produktion wären nach einer EU-Assoziation nicht konkurrenzfähig. Offenbar wird nicht erkannt, dass Russland bisher bereit war, der Ukraine einen „politischen Preis“ zu zahlen. Dies betraf nicht nur Preisnachlässe bei Gaslieferungen, sondern auch die Bereitschaft, Produkte der Landwirtschaft und der Schwerindustrie abzunehmen. Es steht ausser Frage, dass Russland neue Lieferanten findet würde, wenn auch vorübergehende Engpässe und zusätzliche Kosten entstehen könnten. Für den Westen wäre die Belastung ungleich höher. Kommt es erst einmal zu massiven Beschäftigungseinbrüchen in der Ukraine, dann sind politische Unruhen quasi vorprogrammiert, sodass nicht einmal eine erneute Orientierung gen Osten ausgeschlossen ist.
Offensichtlich hat der Westen im gegenwärtigen Konflikt mit Russland schlechte Karten. Und man hat zu hoch gepokert. Wie Russland sich dem zwischen Janukowitsch und der Opposition ausgehandelten Abkommen zähneknirschend unterworfen hat, sollte auch der Westen bereit sein „zurückrudern“. Man könnte etwa Druck auf die ukrainische Regierung ausüben und verlangen, die nationalistischen Extremisten aus der Regierung zu entfernen und stattdessen Vertreter der Partei der Regionen aufzunehmen – sozusagen als Kondition für finanzielle Zusagen. Und höchstwahrscheinlich würde Russland nicht nur eine solche Übergangsregierung anerkennen, sondern sich auch an einem Hilfsprogramm beteiligen.