Gut, dass ich in der Berliner U-Bahn noch keine Weihnachtslieder aus den Lautsprechern höre. „Zurückbleiben bitte, die Türen schließen“.
Von Meinrad Müller
Beim Schließen hätte ein süßes Klingelingeling gepasst. Am Wittenbergplatz über die Rolltreppe hinein in das KaDeWe, es ist nach wie vor eine Reise wert. Die weihnachtliche Stimmung erschlägt einen fast, umso mehr auch noch, wenn Stille Nacht, heilige Nacht morgens um elf mich schon einhüllt.
Eine Krippe und einen Ochsen sehe ich nichts, dafür aber viele Esel, die an der Kasse die teuren Waren bezahlen.
Dieses Lied führt mich 65 Jahre zurück, als wir abends in der Wohnküche saßen. Die Eltern, die Kinder, Oma, Tante, Nachbarn. Äpfel lagen auf dem Herd und brutzelten langsam, und vor allem roch es weihnachtlich. Und dann stimmte man Weihnachtslieder an. Das war Gemütlichkeit, und genau das wird heute im Kaufhaus versucht nachzumachen. Alles schläft, einsam wacht, und der Konsument schlafwandelt durch die Regalwelten.
Es scheint mir so, als wollten die Waren mich am Ärmel zupfen und sagen: Nimm mich doch mit. Aber ich bin schon so eingelullt und schlafe im Stehen in himmlischer Ruh. Ich finde die Rolltreppe, steige einen Stock höher und stehe vor einem der schönsten Tannenbäume, den man sich nur vorstellen kann. Seine Blätter sind größer als alle Blüten Spaniens, denn sie sind aus Plastik, der Schnee auf den Ästen kam aus der Spraydose. Doch er rieselt nicht, weder plötzlich noch leise. Ich erinnere mich, wie wir Kinder mit Vater auf dem Traktor, einer Axt und einer Säge in den tief verschneiten Wald fuhren, dort wo Rotkäppchen und der Wolf wohnen. Wir suchten unseren Tannenbaum aus.
Aus dieser Erinnerung erwache ich plötzlich. Höre Glöckchen, wie eben Glöckchen süßer nie klingen, und ich stehe vor einem Stand, der Teddybären verkauft, die mit ihren Schellen tanzen. Plüschrentiere aus China haben Glöckchen um den Hals, die ganz automatisch klingen, auch irgendwie süß, und dennoch gerate ich in eine Oh du fröhliche und selige Stimmung. Was mich besonders erfreut, sind die vielen Kinder, die mit großen Augen, ob dieser Glitzerwelt mit offenen Mündern staunen. Diese Weihnachtsstimmung ist doch herzergreifender und viel, viel schöner als jene als im August, wo wir nur die Badehose einpacken und dann „nischt wie raus zum Wannsee“.
In jeder der sechs Etagen steht ein Weihnachtsmann mit weißem Bart und empfiehlt seine Gaben. Was können wir dann anderes als zu fühlen: „Lasst uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freuen.“ Ja, so ist das eben, denn alle Jahre wieder kommt der Kunde ins KaDeWe und geht mit einem voll gepackten Rucksack wie Nikolaus nach Hause.
Lasst uns froh und munter sein, klingt das nicht ermutigend? In welcher Jahreszeit sonst werden wir aufgefordert, froh und munter zu sein? Oh du fröhliche, oh du selige, kundenbringende Weihnachtszeit. Ob nun religiös oder nicht, so ist doch dieser Weihnachtstrubel ein nicht zu vermeidendes Ereignis, da uns sonst niemand daran erinnert, dass vor 2000 Jahren etwas Besonderes geschah.
Im sechsten Stock des KaDeWe, wo sich ein großes Café mit Blick über die Stadt befindet, ist man rein rechnerisch dem Himmel 30 Meter näher, und die gute Mär lautet: „Kaufe und du wirst glücklich.“
Berlin leuchtet auch ganz ohne Blaulicht
Ganz abgesehen vom Stern von Bethlehem leuchten auf dem Kudamm vom KDW bis nach Halensee 120.000 LED-Lämpchen in den Bäumen auf einer Länge von drei Kilometer. Touristen fahren mit den Bussen M19 oder M29 eigens auf uns ab, um dieses Schauspiel zu erleben. Und: angucken kostet ja nichts. Bayern zahlt's ja. Jährlich fließen vier Milliarden Steuergeld aus dem reicheren Süden nach Berlin. Da lohnt es sich, die Kudammbeleuchtung gleich mehrmals sich anzusehen.
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