Die Freigabe von Waffen wie den deutschen Taurus-Raketen oder den US-ATACMS-Systemen gibt der Ukraine mehr Handlungsspielraum. Ob damit der Krieg gewonnen werden kann ist jedoch mehr als fraglich. Und die Eskalationsstufe steigt.
Von Dimitry Uganov
Die Entscheidung von Bundeskanzler Friedrich Merz am 26. Mai 2025, die Reichweitenbeschränkungen für westliche Waffenlieferungen an die Ukraine aufzuheben, hat international für Aufsehen gesorgt. Merz machte das im Rahmen seines Aufrtittes bei der Berliner Medienmesse „Re:Publica“ bekannt. „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für die Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind“, erklärte Merz. „Die Ukraine kann sich nun auch verteidigen, indem sie Stellungen in Russland angreift.“
Die Ukraine darf nun auch militärische Ziele auf russischem Territorium mit westlichen Waffen angreifen. Doch was bedeutet das für den Ukraine-Konflikt? Droht ein Dritter Weltkrieg? Und wie reagiert Russland?
Völkerrechtliche Legitimation und strategische Bedeutung
Die Aufhebung der Reichweitenbeschränkung ist völkerrechtlich gedeckt: Die Ukraine hat als angegriffenes Land das Recht, sich zu verteidigen – auch durch Angriffe auf militärische Ziele im Aggressorstaat Russland, um weitere Angriffe abzuwehren. Diese Position wird von westlichen Politikern wie Merz und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg unterstützt. Strategisch ermöglicht die Entscheidung der Ukraine, russische Stellungen, etwa in der Region Charkiw, gezielt zu schwächen, um die eigene Verteidigung zu stärken.
Die Freigabe von Waffen wie den deutschen Taurus-Raketen oder den US-amerikanischen ATACMS-Systemen (bereits im November 2024 erlaubt) gibt der Ukraine mehr Handlungsspielraum. Insbesondere in der aktuellen Phase des Krieges, in der Russland seine Angriffe intensiviert, könnte dies helfen, die Frontlinie zu stabilisieren.
Droht ein Dritter Weltkrieg?
Die Entscheidung birgt ein Eskalationsrisiko, doch Experten halten einen globalen Konflikt für unwahrscheinlich. Der ukrainische Militärexperte Romanchuk betont, dass Russlands vielzitierte „rote Linien“ in der Vergangenheit mehrfach überschritten wurden, ohne dass es zu einer massiven Reaktion kam. Ähnlich sieht es der tschechische Sicherheitsexperte Ondrej Ditrych: Solange Angriffe auf legitime militärische Ziele beschränkt bleiben, sei die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation gering.
Dennoch gibt es Warnungen. Politiker wie Sahra Wagenknecht (BSW) oder Janine Wissler (Die Linke) sehen in der Entscheidung einen gefährlichen Schritt, der Russland dazu bringen könnte, den Westen als direkten Kriegsbeteiligten zu betrachten. Russische Stimmen, wie der Politiker Wladimir Dschabarow oder Ex-Präsident Dmitri Medwedew, drohten bereits mit „taktischen oder strategischen Atomwaffen“ – eine Rhetorik, die jedoch bisher nicht in konkrete Taten umgesetzt wurde.
In Europa wird die Entscheidung weitgehend unterstützt, insbesondere von Ländern wie Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden, die ebenfalls weitreichende Waffen liefern. Kritik kommt hingegen aus Ungarn: Ministerpräsident Viktor Orban warnte vor einer „unverantwortlichen Eskalation“.
Russlands Reaktion: Drohungen und Diplomatie
Russland hat die Aufhebung der Beschränkungen scharf verurteilt. Kremlsprecher Dmitrij Peskow nannte die Entscheidung „ziemlich gefährlich“ und betonte, dass sie den Bemühungen Moskaus um eine politische Lösung widerspreche. Militärisch gab es bislang (Stand 26. Mai 2025) keine direkten Vergeltungsmaßnahmen, doch Russland hat seine Drohnenangriffe auf die Ukraine in den letzten Tagen verstärkt. Dies könnte als indirekte Reaktion gewertet werden.
Parallel dazu setzt Russland auf diplomatische Kanäle, insbesondere mit der neuen US-Regierung unter Donald Trump. Kremlbeauftragte wie Kirill Dmitrijew verhandeln in Washington über eine mögliche Waffenruhe und Sanktionserleichterungen. Die russischen Bedingungen – etwa keine Wiederbewaffnung der Ukraine während einer Waffenruhe – sind jedoch für Kiew schwer akzeptabel.
Balanceakt zwischen Unterstützung und Eskalation
Die Aufhebung der Reichweitenbeschränkung stärkt die Ukraine in ihrem Abwehrkampf, birgt jedoch das Risiko einer Eskalation. Ein Dritter Weltkrieg erscheint derzeit unwahrscheinlich, da Russland bisher auf ähnliche westliche Schritte nicht mit unverhältnismäßigen Maßnahmen reagiert hat. Dennoch bleibt die Lage angespannt. Russland kombiniert scharfe Rhetorik mit verstärkten Angriffen und diplomatischen Bemühungen, während der Westen die Ukraine weiter unterstützt, ohne direkt in den Krieg eingreifen zu wollen.
Die weitere Entwicklung hängt davon ab, wie Russland die ukrainischen Angriffe auf sein Territorium interpretiert und ob die Verhandlungen mit den USA Fortschritte bringen. Eines ist klar: Der Ukraine-Konflikt bleibt ein geopolitisches Pulverfass, das sorgfältiges Handeln erfordert.