Die „Europa-Rede“ von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz war ein Vortrag voller Halbwahrheiten und Widersprüchlichkeiten. Dabei braucht es am Rednerpult endlich jemanden, der sich traut, die ganze Wahrheit zu sagen.
von Hans-Olaf Henkel
Vor einigen Tagen habe ich mir die „Europa-Rede“ des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, angehört. Es hat sich gelohnt, nicht nur wegen der eleganten Einführung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, sondern wegen der in ihrer an Widersprüchlichkeit kaum zu überbietenden Rede von Martin Schulz.
Schon sein Redestil ließen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Zwar erinnerte er die Zuhörer respektvoll daran, dass die „Nachkriegsjahre keine Zeit des Pathos“ waren, sonderte dann aber eine pathetische Luftblase nach der anderen ab. Ich finde, auch bei Europapolitikern haben wir Anspruch auf Konkretes statt auf Sprüche wie „mehr Langfristigkeit in der Politik“.
Martin Schulz zitierte Thomas Mann, dem ein „europäisches Deutschland“ lieber als ein „deutsches Europa“ war. Dass die von den meisten Europäern kritisierte Germanisierung der europäischen Fiskalpolitik eine direkte Folge der von ihm mit zu verantwortenden Eurorettungspolitik ist, verschwieg er.
Mit Beifall bedacht wurde die von ihm zum Ausdruck gebrachte Empörung über die in griechischen Medien in Nazi-Uniform dargestellte Bundeskanzlerin. Dass vor der Eurokrise Deutschland noch das angesehenste Land in Griechenland war, sagte er auch nicht.
Er beklagte die „verlorene Generation“ in Griechenland und Spanien, überging aber die Ursachen, die auch in unserer „one-size-fits-none“-Währung zu suchen sind.
Schulz bejammerte, dass viele Deutsche sich als Zahlmeister für den Schlendrian anderer in Haftung genommen fühlen, andere Völker sich als Opfer einer von Berlin oktroyierten Sparpolitik sehen. Dass die Bürger in beiden Fällen auch richtig liegen könnten, kam ihm nicht in den Sinn.
Zu Recht warnte Schulz vor den gefährlichen „Zentrifugalkräften der Krise“. Er hätte daran erinnern können, dass die Vielvölkerstaaten UDSSR und Jugoslawien wegen solcher Zentrifugalkräfte auseinandergeflogen sind. Das Auseinanderbrechen der CSSR, die neuen Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Katalonien und die permanent labile Situation des Zweieinhalbsprachenlandes Belgien und blendete er aus. Das musste er auch, wenn er den Zuhörern einen europäischen Zentralstaat mit 23 Sprachen verkaufen will.
Schulz plädierte dafür, das deutsch-französische Paar um Polen zu erweitern. Dass die derzeitige Europolitik den Graben zu Polen schon jetzt immer breiter macht, kehrte er unter den Teppich.
Zu Recht lobte Schulz die Dynamik der polnischen Volkswirtschaft. Er hätte auch die Dynamik der anderen Nicht-Euroländer erwähnen und sie mit der traurigen Perspektive in der Eurozone vergleichen können. Dass dort heute mit über 18 Millionen Arbeitslosen ein neuer Negativrekord zu verzeichnen ist, kam in der Europa-Rede dagegen nicht vor.
Er erinnerte zwar daran, dass (mit zwei Ausnahmen) alle EU Länder verpflichtet sind, den Euro einzuführen, schweigt aber zu der Tatsache, dass von den Nicht-Euroländern nur noch die rumänische Bevölkerung den Euro tatsächlich will.
Zu Recht beklagte er, dass „die Menschen aufeinander gehetzt und gegeneinander ausgespielt“ werden; er kritisierte die „Vergipfelung“ des Europäischen Rates und die „im Entstehen begriffene marktkonforme Demokratie“. So etwas kann nur ein mit allen Wassern gewaschener Politiker hinkriegen: die Folgen der Politik zu bejammern, die er ständig selbst betreibt.
Es wird Zeit, dass die Verantwortlichen für die „Europa-Rede“ mal Jemanden einladen, der nicht nur einem europäischen Zentralstaat das Wort redet, sondern dem „Europa der Vaterländer“, einen, der uns die ganze Wahrheit sagt, zum Beispiel: „Eine Währung sollte den bestehenden Kulturen und Realitäten der europäischen Länder angepasst werden und nicht umgekehrt.“