Die Entdeckung des Unbewussten: Heinrich von Kleists Aufsatz über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805). Von Kleist erfindet in seinem Aufsatz das Unbewusste nicht, er beschreibt aber minutiös, wie es arbeitet, wenn wir anheben, Gedanken zu entwickeln und sie zu äußern.
von Rolf Ehlers
Vielen gilt Sigmund Freud (1856–1939), der Begründer der Psychoanalyse, als der Entdecker des Unbewussten. Tatsächlich entwickelte er ein ganzes System von Vorgängen im menschlichen Geist und Gemüt, die sich unterhalb der Schwelle des Bewusstseins abspielen. Es war aber der deutsche Arzt und Naturphilosoph Carl Gustav Carus (1789 – 1869), ein Freund Goethes, der als Erster in seinem 1846 veröffentlichten Buch „Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele“ die Begriffe des „Unbewussten“ und des „Unbewusstseins“ entwickelte. Carus sah in diesen Phänomenen aber auf spiritualistisch-romantische Weise die „göttliche Natur“ des Menschen, während bei Freud und seinen Nachfolgern bis heute die unterbewusste Welt in unserem Innern mehr als gefahrvoll empfunden wird oder dämonisch besetzt ist (Libido, Machtstreben, Archetypen).
Dabei machte der große deutsche Schriftsteller Heinrich von Kleist schon im Jahre 1805 eine geradezu geniale Entdeckung, die sich in seinem leider erst 1878 posthum veröffentlichten Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ findet. Was von Kleist da in wenigen Sätzen an neuen Erkenntnissen zusammentrug, verändert auf Dauer unser Verständnis von uns selbst als denkenden, sprechenden, fühlenden und handelnden Wesen. Der Aufsatz liest sich trotz der Liebe von Kleists zur komplexen Verschachtelung seiner Sätze ganz leicht. Besonders uns heutigen Menschen, die nach den Erkenntnissen der Hirnforschung und der Endokrinologie das sichere Wissen über die funktionalen Zusammenhänge haben, erschließt sich der Sinn sofort.
Von Kleist erfindet in seinem Aufsatz das Unbewusste nicht, er beschreibt aber minutiös, wie es arbeitet, wenn wir anheben, Gedanken zu entwickeln und sie zu äußern. Wenn man einmal darauf gestoßen wird, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: in aller Regel steht gar nicht fest, was wir laut sagen, wenn wir uns zu einem Thema äußern. Erst in dem Moment, in dem der Kehlkopf auf Anweisung des Gehirns die Worte erzeugt, die die Zuhörer erreichen sollen, werden sie im Gehirn gebildet. Oft sind wir selbst überrascht, was wir inhaltlich von uns geben. Wir haben zwar im Gedächtnis viele Informationen gespeichert, die wir abrufen können. Aber wir äußern uns auch zu Fragen, die wir bewusst nie durchdacht haben und kommen zu Schlussfolgerungen, die für uns ebenso neu sind wie für unsere Zuhörer. Ganz offensichtlich ist in uns da „jemand“ tätig, der am Thema arbeitet, der Informationen aus den Speichern unseres Gedächtnisses holt, sie sichtet, wertet und logisch aufarbeitet, der auch entscheidet, in welche Richtung unsere Rede gehen soll und der die Verantwortung für das übernimmt, was wir dann tatsächlich von uns geben.
In Kenntnis der von der Hirnforschung ermittelten Tatsache, dass 99 % aller Hirntätigkeit auch im Zustand der Wachheit unterhalb der Schwelle unseres Bewusstseins abläuft, kann es uns nicht verwundern, dass wir im genau der Sekunde der Abgabe unserer Erklärung diese erst endgültig durchdenken und sprachlich ausformulieren.
Von Kleist ist sich dessen bewusst, dass auch ohne die sprachliche Ausformung Gedanken aufkommen, die zuvor nicht gedacht waren. Er fürchtet aber, dass diese flüchtig sein können und empfiehlt daher, einen Gesprächspartner zu finden, dem gegenüber man seine Gedanken nachvollziehbar ausformuliert. Im Licht der heutigen Kenntnisse über die Funktionen unseres Gehirns ist diese Sorge sehr verständlich. Unsere Gedanken sind ja wirklich flüchtig, wenn sie nicht in unserem Kurzzeit- und dann in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Aber einer wirklichen Rede bedarf es nach heutigem Wissen nicht, wenn unser Unbewusstes seine Gedanken entwickelt. Vieles können wir auch ohne jede fremde Mitwirkung in unsere Gedächtnisspeicher bringen. Wir können es aber auch niederschreiben oder anders abspeichern. Von Kleists Entdeckung hat daher nicht allein die fundamentale Bedeutung bei der Verfertigung der Gedanken beim Reden. Sie beschreibt die Entstehung der Gedanken schlechthin.
Auch als Archimedes mit einem „Heureka“ erwachte, als sich ihm aus seinem Unbewussten plötzlich erschloss, dass die Auftriebskraft eines Körpers in einem Medium immer gleich groß ist wie die Gewichtskraft des von Körper verdrängten Mediums, hatte sein Unbewusstes alle Gedankenschritte vollzogen, die dieses fundamentale physikalische Gesetz beschreiben
Unser Bewusstsein ist mit den Werkzeugen des sprachbefähigten Denkens nicht ein bloßes Korrektiv. Unser Selbst, die zur bewussten Erkenntnis fähige Einheit aus den Funktionen des Denkens, Erinnerns, Bewertens, Fühlens und Entscheidens, kommt uns fremd vor, wenn wir dieses Zusammenwirken nicht verstehen und es einfach geschehen lassen. In der Reifung zur verantwortlichen Persönlichkeit erfährt der Mensch die Versöhnung seines bewussten Ichs mit seinem großen unbewussten Selbst.